Konzerne mit Rekord-Gewinnen, aber der DAX tiefrot. Wie passt das zusammen? (Adrian Roeste)
Diese Frage ist relativ einfach zu beantworten: Die Weltwirtschaft steuert auf eine mittelschwere Rezession zu. Ausgelöst wird dieser spürbare wirtschaftliche Abschwung durch das Zurückfahren der vor zweieinhalb Jahren gestarteten geld- und fiskalpolitischen Corona-Rettungspakete. Dass Notfallprogramme in wirtschaftlich guten Zeiten, in denen wir uns noch befinden, wie an den vielen guten Unternehmensnachrichten abzulesen ist, wieder reduziert werden und sich die Konjunktur dann abschwächt, ist weder neu noch führte es in der Vergangenheit schnurstracks in eine Rezession.
Doch diesmal ist die Situation komplexer: der Ukrainekrieg, wachsende Spannungen zwischen den USA und China, die Wirtschaftsschwäche Chinas, die anhaltenden Verwerfungen in den Lieferketten und die dauerhaft hohen Inflationsraten haben dazu geführt, dass das wirtschaftliche Umfeld trotz immenser Nachholeffekte nach der Pandemie fragil ist. Die Wurzel der hohen Inflation liegt im verknappten Angebot – sei es auf den Gütermärkten (Lieferketten), der Energie (geringere Lieferungen aus Russland) oder dem Arbeitsmarkt (Frühpensionierungen wegen Corona, etc.). Bei solchen Störungen ist eine Zinspolitik wenig effizient, weil sie das starre Angebot nicht beeinflussen kann. Die Zentralbanken müssen den Zins also sehr stark erhöhen, um die Nachfrage auf das niedrige Angebot zu drücken. Die Vergangenheit zeigt, dass hierbei einiges schieflaufen kann.
Unglücklicherweise kommt dazu, dass es um die Glaubwürdigkeit der Zentralbanken nicht gut bestellt ist: Die amerikanische Fed hat in den vergangenen vier Jahren zweimal innerhalb kürzester Zeit eine 180-Grad-Kehrtwende hingelegt. Und die europäische Notenbank hatte es schon vor Corona nicht geschafft, ihr Anleihekaufprogramm einzufrieren. Der Reputationsschaden der westlichen Geldhüter ist angesichts der gravierenden Fehleinschätzung in Sachen Inflation und einer viel zu zögerlichen Haltung erheblich. Aktuell vertrauen die Konsumenten noch darauf, dass die Geldhüter den Preisanstieg in den Griff bekommen.
Änderungen in der Geldpolitik wirken sich meist erst etliche Monate später aus. Ein dreiviertel Jahr im Voraus aber exakt den Zinssatz zu treffen, zu dem bei den aktuellen vielen Einflussfaktoren die Güter- und Dienstleistungsmärkte wieder ins Gleichgewicht kommen, dürfte ähnlich unwahrscheinlich sein wie ein Lottogewinn. Eine solche „Feinsteuerung“ war schon in den vergangenen vier Dekaden, in denen die Inflation signifikant unter den heutigen Niveaus lag, ein Wunschdenken. Jetzt aber muss mit der Holzhammermethode aufgeholt werden, was man aus Angst vor der Pandemie im vergangenen Jahr versäumt hat – nämlich die Zinsen frühzeitig und in verträglichen Schritten anzuheben. Einen so schnellen Anstieg der US-Leitzinsen in so kurzer Zeit, wie wir es dieses Jahr erleben, gab es zuletzt Anfang der 1980er Jahre.
Wir haben uns über eine Dekade lang an extrem niedrige Zinsen gewöhnt. Eine aktuell in Zentralbankkreisen viel beachtete Forschungsarbeit zeigt: Je länger und ausgeprägter ein solcher Zeitraum ist, desto tiefer liegt der Zinssatz, bei dem das Finanzsystem instabil wird, unter einem neutralen, inflationshemmenden Zinssatz. Die Wahrscheinlichkeit, dass Fed-Chef Jerome Powell früher als erwartet auf diese Herausforderung reagieren muss, ist immens.
Die Auswirkungen der aggressiven Zinserhöhungen auf Konsum, Immobilienmärkte und Unternehmensfinanzierung dürften im ersten Halbjahr 2023 besonders zu spüren sein. Die Kapitalmärkte antizipieren eine solche rezessive Entwicklung in der Regel bereits vorher. Europa ist von den geopolitischen Brandherden, horrenden Energiepreisen und einem schwächeren Weltwirtschaftswachstum erheblich stärker betroffen als Nordamerika. Ein starker US-Dollar bereitet vielen Schwellenländern in der Regel Probleme. China kämpft neben anhaltenden regionalen Covid-Lockdowns damit, einen Crash am Immobilienmarkt zu vermeiden. Unter Berücksichtigung eines wesentlich höheren geldpolitischen Spielraums erscheinen die USA daher auch dieses Mal als beste Investitionsalternative.
Ob wir schon den Tiefpunkt an den Aktienmärkten gesehen haben, lässt sich aktuell nicht prognostizieren. Tiefpunkte gehen meist mit einer abschließenden Panik und hohen Tagesverlusten einher. Damit wird der Grundstein für eine kräftige Erholung der Aktienmärkte und des Euro gelegt. Dann gilt es, einen kühlen Kopf zu bewahren, zügig zu agieren, antizyklisch zu investieren, von defensiven Titeln in zyklische Werte zu tauschen und die Übergewichtung in amerikanischen Valoren zugunsten Europas anzupassen. Auf Sicht von drei Jahren gab es in einer Situation, wie wir sie aktuell haben, fast ausschließlich positive Ergebnisse am Aktienmarkt mit teilweise überragenden Erträgen.
Diese Erwartungen haben natürlich immer Restrisiken. Ein heftiger Konjunktureinbruch in China, ein globaler Einbruch der Immobilienpreise, aggressivere Varianten des Corona-Virus mit großflächigen Lockdowns in China oder kaum denkbare Eskalationen geopolitischer Risiken (Atomwaffeneinsatz, Angriff auf Taiwan) können eine globale Finanzkrise auslösen. Wir sehen jedoch zum aktuellen Zeitpunkt die Chance auf eine positivere Entwicklung. Ein schnellerer Rückgang der Inflationsraten – vor allem in den USA – würde von den Märkten euphorisch aufgenommen werden. Ähnlich wie in den 1970er Jahren werden die hohen Energiepreise mittelfristig zu Anpassungen führen. Die Wende zu regenerativen Energieträgern wird sich beschleunigen, schnellere technologische Fortschritte beim Ausbau der Energieinfrastruktur sind zu erwarten. Schlussendlich sind die Unternehmensbilanzen im Vergleich zu 2008/2009 wesentlich gesünder, die Firmen sind effizienter aufgestellt und profitieren zunehmend vom Einsatz der Hochtechnologie.
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Aus dem Börse Express PDF vom 27.10. hier zum Download