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Opec: Der fatale Zerfall des mächtigsten Kartells der Welt
Bis heute weiss niemand, wer Ilich Ramírez Sánchez den Auftrag erteilte. Wer ihm befahl, das mächtigste Kartell der Welt anzugreifen, am 21. Dezember 1975, einem stillen Sonntag. Carlos, der Schakal, wie seine Leute ihn nannten, war Anführer der Gruppe "Arm der arabischen Revolution". Die Terroristen überfielen in Wien das Hauptquartier der Organisation der Erdöl exportierenden Staaten, der Opec. Sie töteten drei Menschen und nahmen die elf Minister der Opec-Länder als Geiseln. Inmitten der Panik im Konferenzsaal dachte der saudi-arabische Erdölminister Zaki Yamani zuerst, die Angreifer müssten Europäer sein, die gegen eine Erhöhung der Ölpreise protestierten, wie der Wiener Historiker Thomas Riegler sagt. "Yamani hat vermutet, die Europäer seien gekommen um Rache zu nehmen." Es waren natürlich nicht die Europäer, es waren Libyen, Algerien und der Irak, die mit der Attacke den Ölpreis zu ihren Gunsten manipulieren wollten, was ihnen mit etwas Zeitverzögerung auch gelang. Sie verbündeten sich gegen die Golfstaaten, die die Förderung ausweiten wollten – was die Preise hätte abstürzen lassen. Heute wird die Opec wieder erschüttert, nicht von Terroristen, aber erneut von ihren eigenen Mitgliedern. Die Vereinigung, die nichts weniger anstrebt als die Macht über den wichtigsten Rohstoff des Planeten, erlebt eine Krise. Es ist die grösste seit dem Angriff des Schakals vor mehr als 40 Jahren. Das Kartell wirkt wie gelähmt. Davon zeugt das jüngste Treffen, von vielen als wichtigster Gipfel seit Jahren deklariert. Die Zusammenkunft, zu der auch das Nichtmitglied Russland eingeladen war, endete in einem Zerwürfnis. Die Ölmächte wollten sich darauf einigen, nicht wie bisher ungezügelt zu fördern, mehr und mehr, bis die Tanks eines Tages buchstäblich überlaufen, sondern die Quoten einzufrieren. Aber selbst dieser Minimalkonsens war offenbar zu ambitioniert. Vereinbart haben die Staaten am Ende: nichts. "Ihre Ära als eine der entscheidenden Mächte in der Weltwirtschaft ist vorüber", sagt Daniel Yergin, ein führender Öl-Historiker und Vizepräsident des amerikanischen Beratungshauses IHS. "Sie ist ganz offensichtlich eine gespaltene Organisation."
Wilde Ölmärkte werden noch unberechenbarer
Wenn das Kartell die Herrschaft über den Ölpreis zu verlieren scheint, klingt das für viele zunächst nach einer guten Nachricht – schliesslich stehen Kartelle in dem unschönen Ruf, ihre Gewinne zulasten der Verbraucher einzustreichen. Zudem hat man hierzulande noch immer die leeren Strassen an den autofreien Sonntagen vor Augen, die die Bundesregierung 1973 einführte, nachdem die Opec den Industriestaaten den Öl- und Benzinhahn zugedreht hatte. Heute könnte die Sache jedoch anders aussehen. Eine Energie-Organisation, die zerfällt, macht die ohnehin schon wilden Ölmärkte noch unberechenbarer. Zumal Öl ein politischer Rohstoff ist, der auch als Waffe missbraucht wird, etwa wenn das sunnitische Saudi-Arabien besonders viel fördert, um das Erstarken des mehrheitlich schiitischen Rivalen Iran zu verhindern. So sehr die Opec dämonisiert wird – in ihren guten Jahren hat sie das Auf und Ab der Preise gebändigt. Immer, wenn die Opec schwächelte, erlebte der Ölmarkt dramatische Schocks. Jetzt sieht es aus, als könnte es wieder so weit sein. So war es etwa in den 80er-Jahren, zu der Zeit, da zwei Opec-Mitglieder in den Krieg gegeneinander zogen: Iran und Irak. In diesen Wirren machten viele Mitglieder, was sie wollten. Einige erhöhten etwa ihre Förderung ohne jede Absprache, um ihren Marktanteil auszubauen – mit der Folge, dass der Ölpreis abstürzte, bis auf unter zehn Dollar je Fass. Heute sind die Symptome ähnlich. Der wirtschaftliche Kampf um Marktanteile und der politische um die Vorherrschaft im Nahen Osten lassen einen Klub zurück, dessen Angehörige bis aufs Blut zerstritten sind. Die Förderstaaten überschwemmen die Welt mit Öl und drohen sich damit selbst zu ruinieren. Wie konnte es so weit kommen?
Klub machtbesessener Rivalen
Bagdad 1960. Hier wurde die Opec gegründet, ehe sie nach Genf und später, 1965, nach Wien zog. Der damalige österreichische Aussenminister Bruno Kreisky, der über besonders gute Kontakte in die arabische Welt verfügte, wollte die Vereinigung unbedingt in Wien haben und lockte mit allen diplomatischen Vorzügen, die internationalen Organisationen zuteil werden: Steuerfreiheit, Immunität und Diplomatenkennzeichen an den Dienstwagen.
Das Ziel war, die bis dahin geltenden Machtstrukturen zu zerschlagen. Zu Beginn des vergangenen Jahrhunderts dominierten die sogenannten Seven Sisters den Markt. Sieben amerikanische und europäische Ölkonzerne – die Nachfolger des zerschlagenen Standard-Oil-Imperiums von John D. Rockefeller – hatten die wichtigsten Förderregionen unter sich aufgeteilt. Sie kontrollierten auch die komplette Wertschöpfungskette. Wettbewerb war unmöglich. Eine unangenehme Situation für die rohstoffreichen Staaten. Sie wollten selbst über ihre Bodenschätze verfügen. Saudi-Arabien, Irak, Iran, Kuwait und Venezuela taten sich zusammen – und verstaatlichten die Pumpen der ausländischen Konzerne kurzerhand. Die Geburtsstunde der Opec. Und zugleich der Beginn eines langen Streits. Seit je war das Kartell ein Klub machtbesessener Rivalen. Nicht erst der Iran-Irak-Krieg in den 80er-Jahren offenbarte die Zerrissenheit der Öl-Avantgarde. Schon als der Schah von Persien noch Herrscher über den Iran war, lag das Land mit den Saudis im Clinch. Das zeigte vor allem der stets wiederkehrende Kampf um die Besetzung des Generalsekretärs.
Offene Kritik des Lukoil-Chefs
27 Opec-Chefs gab es bisher – darunter aber nur einen Saudi und einen Iraner. Meist wurden Kompromiss-Kandidaten aus anderen Ländern gesucht, mit Vorliebe aus eher unbedeutenden wie Venezuela, Indonesien oder Nigeria. Der seit 2007 amtierende Generalsekretär Abdalla Salem el-Badri stammt aus Libyen. El-Badri hat seine eigentlich vorgesehene Amtszeit – acht Jahre – bereits deutlich überschritten, aber die zerrüttete Opec ist einfach nicht in der Lage, sich auf einen neuen Kandidaten zu einigen. Was genau in den schlichten Konferenzräumen in der Wiener Helferstorferstrasse gegenüber der Universität vorgeht, weiss niemand genau. Die Öffentlichkeit muss draussen bleiben, wenn sich die Vertreter der Staaten treffen. Wenn sie feilschen, Allianzen schmieden und sich bedrohen in dem Gebäude, das an eine Burg erinnert, mit Fenstern, die so schmal und eng sind wie mittelalterliche Schiessscharten. Wagit Alekperow gehört zu den Auserwählten, die regelmässig zu Gast sind, im Innern des Machtzentrums. Der Chef des zweitgrössten russischen Ölkonzerns Lukoil weiss also, wie die Opec-Oberen ticken. Umso mehr lässt die offene Kritik aufhorchen, die er gegenüber der "Welt am Sonntag" äussert. Die Organisation erfülle aufgrund der starken politischen Widersprüche zwischen ihren Mitgliedern seit einigen Jahren ihre Funktion als Regulator nicht mehr, sagt Alekperow: "Ihre Möglichkeiten sind erschöpft." Das habe der enttäuschende Verlauf des jüngsten Gipfels gezeigt. "Die Opec muss reformiert werden, so wie alle öffentlichen Organisationen in gewissen Abständen. Und sie muss neue Hebel ausarbeiten, um Aktionen untereinander koordinieren zu können."
Ohne Quoten ist die Opec am Ende
In den vergangenen Jahren wurden die Opec-Entscheidungen eher in Riad oder Teheran getroffen als von den Opec-Ölministern in Wien. Als besonders denkwürdig gilt in der Branche das 166. Treffen am 27. November 2014. Der Ölpreis befand sich im Sinkflug. Er war innerhalb weniger Monate von über 110 auf 72 Dollar abgestürzt. Alle Experten rechneten fest damit, dass die Opec die Quoten kürzt. Aber es kam anders. Die Mitglieder beschlossen auf Druck aus Riad, nichts zu tun und die Fördermenge bei 30 Millionen Barrel zu halten. Das Signal an die Aussenwelt war klar: Nicht die Staaten, sondern die Märkte sollten die Preise bestimmen. Ein Jahr später, auf der Sitzung am 4. Dezember 2015, der Preis war inzwischen auf 40 Dollar abgestürzt, strichen die Regierungen jegliche Obergrenze von der Tagesordnung. Keine Zahl nach einer Opec-Sitzung – das war ein Novum. Die Quoten, die den Mitgliedern eine Grenze vorschreibt, sind eine der tragenden Säulen der Organisation. Sie waren auch das wichtigste Instrument, um die Preise stabil zu halten. Einerseits durften die Vorgaben nicht zu stark steigen, um die Käufer nicht zur Suche nach Alternativen zu verleiten. Andererseits durften sie nicht so stark fallen, dass sie den Profit gefährdeten. Ohne Quoten ist die Opec am Ende, sagen viele. Einige halten diesen Befund aber für verfrüht. "Das ist allein die westliche Wahrnehmung", sagt Karin Kneissl. Die Österreicherin gilt als Kennerin der Organisation. Sie arbeitet als Energieanalystin und Buchautorin und ist mit der Opec vertraut wie kaum jemand sonst – mit ihren Strukturen, Akteuren, Machtspielen. Kneissl warnt davor, den Klub zu dämonisieren. Der sei heute pragmatisch und habe durchaus gute Seiten. Von den Analysen der Opec-Experten profitierten Investoren in aller Welt, und dem Westen biete die Organisation einen Ansprechpartner.
Braucht die Opec neue Regeln?
Aber Risiken sieht auch Kneissl. Das grösste seien die Machtkämpfe innerhalb des saudischen Königshauses. Der stellvertretende Kronprinz Mohammed bin Salman versuche noch zu Lebzeiten seines Vaters, möglichst viel Macht an sich zu reissen. So hat er auch im jüngsten Opec-Poker – bei dem Treffen im März mit Russland – im Hintergrund die Strippen gezogen und damit am Ende mutmasslich die Verhandlungen zum Platzen gebracht, weil er die Quoten nicht einfrieren wollte, aus Sorge, dann Marktanteile zu verlieren. Kneissl rechnet jedoch damit, dass sich die pragmatischen Kräfte durchsetzen. Ohnehin könne niemand eine schwache Opec wollen. Kneissl erinnert an das Jahr 2005, als heftige Preissprünge immer wieder die Weltwirtschaft erschütterten. Sie hält die Organisation für lebendig: "Die Opec wird wahrscheinlich länger leben als so manche europäische Organisation." Branchenkenner sind sich einig, dass die Opec für ihre ökonomische Relevanz und somit ihr Überleben neue Regeln braucht. Sie sei auf einen starken Generalsekretär angewiesen, der nicht die Einflüsterungen einzelner Mitglieder exekutiert, sondern den Willen der Mehrheit umsetzt und gegebenenfalls auch Strafen für jene Mitglieder verhängt, die sich nicht an das Mengendiktat halten. Für einen der grössten Fehler halten es Beobachter, dass die Fördergrenze abgeschafft worden ist. Es müssten dringend wieder bindende Quoten her. Die könnte dann die Opec mit aller Härte überwachen, nach dem Vorbild einer Finanzaufsicht, die die Kapitalrichtlinien der Banken kontrolliert.
"Das Kartell wurde schon oft totgesagt"
"Das Kartell ist brüchig, aber es besitzt nach wie vor Macht", pflichtet Leon Leschus bei. Er ist der Rohstoffstratege beim Hamburgischen Weltwirtschaftsinstitut (HWWI). "Spätestens dann, wenn der Iran das angestrebte tägliche Fördervolumen von rund vier Millionen Barrel erreicht hat, steigt die Wahrscheinlichkeit, dass die Opec wieder mit einer Stimme spricht." Sogar Opec-Skeptiker Yergin gibt zu: "Das Kartell wurde schon oft totgesagt, doch es ist immer wieder zurückgekommen." Die Experten weisen darauf hin, dass gerade die westlichen Industriestaaten auf dieses Comeback sogar hoffen sollten. "Unsere Interessen und die der Opec liegen gar nicht so weit auseinander", sagt Leschus. Das Kartell peile einen einigermassen hohen und vor allem stabilen Ölpreis an. "Damit können auch wir leben." Auch das Geiseldrama im Jahr 1975 konnte die Organisation am Ende nicht zerstören. Doch es beschädigte sie, ebenso wie den Ruf der Stadt Wien. Der Unmut über die lockeren Sicherheitsvorkehrungen der Österreicher war gross. Es lagen ernsthafte Drohungen gegen den saudischen Ölminister Zaki Yamani vor – doch sie wurden wohl ignoriert. "Anfang des Jahres 1975 war in einer Londoner Wohnung, die Carlos als Unterschlupf diente, eine Todesliste gefunden worden", sagt Historiker Riegler. Österreich musste sich damals anstrengen, um eine Abwanderung der Opec nach Paris zu verhindern. Jetzt, im Jahr 2016, ist die Bedrohung der Organisation weniger gewaltsam. Aber womöglich ist sie grösser: Die Zerrissenheit der Mitglieder, die Sturheit der Staatschefs, ihre Egoismen, ihr oft erratischer Politikstil – das kann gefährlicher sein als eine einzelne Gruppe Terroristen.
(Die Welt/Bloomberg)
Wilde Ölmärkte werden noch unberechenbarer
Wenn das Kartell die Herrschaft über den Ölpreis zu verlieren scheint, klingt das für viele zunächst nach einer guten Nachricht – schliesslich stehen Kartelle in dem unschönen Ruf, ihre Gewinne zulasten der Verbraucher einzustreichen. Zudem hat man hierzulande noch immer die leeren Strassen an den autofreien Sonntagen vor Augen, die die Bundesregierung 1973 einführte, nachdem die Opec den Industriestaaten den Öl- und Benzinhahn zugedreht hatte. Heute könnte die Sache jedoch anders aussehen. Eine Energie-Organisation, die zerfällt, macht die ohnehin schon wilden Ölmärkte noch unberechenbarer. Zumal Öl ein politischer Rohstoff ist, der auch als Waffe missbraucht wird, etwa wenn das sunnitische Saudi-Arabien besonders viel fördert, um das Erstarken des mehrheitlich schiitischen Rivalen Iran zu verhindern. So sehr die Opec dämonisiert wird – in ihren guten Jahren hat sie das Auf und Ab der Preise gebändigt. Immer, wenn die Opec schwächelte, erlebte der Ölmarkt dramatische Schocks. Jetzt sieht es aus, als könnte es wieder so weit sein. So war es etwa in den 80er-Jahren, zu der Zeit, da zwei Opec-Mitglieder in den Krieg gegeneinander zogen: Iran und Irak. In diesen Wirren machten viele Mitglieder, was sie wollten. Einige erhöhten etwa ihre Förderung ohne jede Absprache, um ihren Marktanteil auszubauen – mit der Folge, dass der Ölpreis abstürzte, bis auf unter zehn Dollar je Fass. Heute sind die Symptome ähnlich. Der wirtschaftliche Kampf um Marktanteile und der politische um die Vorherrschaft im Nahen Osten lassen einen Klub zurück, dessen Angehörige bis aufs Blut zerstritten sind. Die Förderstaaten überschwemmen die Welt mit Öl und drohen sich damit selbst zu ruinieren. Wie konnte es so weit kommen?
Klub machtbesessener Rivalen
Bagdad 1960. Hier wurde die Opec gegründet, ehe sie nach Genf und später, 1965, nach Wien zog. Der damalige österreichische Aussenminister Bruno Kreisky, der über besonders gute Kontakte in die arabische Welt verfügte, wollte die Vereinigung unbedingt in Wien haben und lockte mit allen diplomatischen Vorzügen, die internationalen Organisationen zuteil werden: Steuerfreiheit, Immunität und Diplomatenkennzeichen an den Dienstwagen.
Das Ziel war, die bis dahin geltenden Machtstrukturen zu zerschlagen. Zu Beginn des vergangenen Jahrhunderts dominierten die sogenannten Seven Sisters den Markt. Sieben amerikanische und europäische Ölkonzerne – die Nachfolger des zerschlagenen Standard-Oil-Imperiums von John D. Rockefeller – hatten die wichtigsten Förderregionen unter sich aufgeteilt. Sie kontrollierten auch die komplette Wertschöpfungskette. Wettbewerb war unmöglich. Eine unangenehme Situation für die rohstoffreichen Staaten. Sie wollten selbst über ihre Bodenschätze verfügen. Saudi-Arabien, Irak, Iran, Kuwait und Venezuela taten sich zusammen – und verstaatlichten die Pumpen der ausländischen Konzerne kurzerhand. Die Geburtsstunde der Opec. Und zugleich der Beginn eines langen Streits. Seit je war das Kartell ein Klub machtbesessener Rivalen. Nicht erst der Iran-Irak-Krieg in den 80er-Jahren offenbarte die Zerrissenheit der Öl-Avantgarde. Schon als der Schah von Persien noch Herrscher über den Iran war, lag das Land mit den Saudis im Clinch. Das zeigte vor allem der stets wiederkehrende Kampf um die Besetzung des Generalsekretärs.
Offene Kritik des Lukoil-Chefs
27 Opec-Chefs gab es bisher – darunter aber nur einen Saudi und einen Iraner. Meist wurden Kompromiss-Kandidaten aus anderen Ländern gesucht, mit Vorliebe aus eher unbedeutenden wie Venezuela, Indonesien oder Nigeria. Der seit 2007 amtierende Generalsekretär Abdalla Salem el-Badri stammt aus Libyen. El-Badri hat seine eigentlich vorgesehene Amtszeit – acht Jahre – bereits deutlich überschritten, aber die zerrüttete Opec ist einfach nicht in der Lage, sich auf einen neuen Kandidaten zu einigen. Was genau in den schlichten Konferenzräumen in der Wiener Helferstorferstrasse gegenüber der Universität vorgeht, weiss niemand genau. Die Öffentlichkeit muss draussen bleiben, wenn sich die Vertreter der Staaten treffen. Wenn sie feilschen, Allianzen schmieden und sich bedrohen in dem Gebäude, das an eine Burg erinnert, mit Fenstern, die so schmal und eng sind wie mittelalterliche Schiessscharten. Wagit Alekperow gehört zu den Auserwählten, die regelmässig zu Gast sind, im Innern des Machtzentrums. Der Chef des zweitgrössten russischen Ölkonzerns Lukoil weiss also, wie die Opec-Oberen ticken. Umso mehr lässt die offene Kritik aufhorchen, die er gegenüber der "Welt am Sonntag" äussert. Die Organisation erfülle aufgrund der starken politischen Widersprüche zwischen ihren Mitgliedern seit einigen Jahren ihre Funktion als Regulator nicht mehr, sagt Alekperow: "Ihre Möglichkeiten sind erschöpft." Das habe der enttäuschende Verlauf des jüngsten Gipfels gezeigt. "Die Opec muss reformiert werden, so wie alle öffentlichen Organisationen in gewissen Abständen. Und sie muss neue Hebel ausarbeiten, um Aktionen untereinander koordinieren zu können."
Ohne Quoten ist die Opec am Ende
In den vergangenen Jahren wurden die Opec-Entscheidungen eher in Riad oder Teheran getroffen als von den Opec-Ölministern in Wien. Als besonders denkwürdig gilt in der Branche das 166. Treffen am 27. November 2014. Der Ölpreis befand sich im Sinkflug. Er war innerhalb weniger Monate von über 110 auf 72 Dollar abgestürzt. Alle Experten rechneten fest damit, dass die Opec die Quoten kürzt. Aber es kam anders. Die Mitglieder beschlossen auf Druck aus Riad, nichts zu tun und die Fördermenge bei 30 Millionen Barrel zu halten. Das Signal an die Aussenwelt war klar: Nicht die Staaten, sondern die Märkte sollten die Preise bestimmen. Ein Jahr später, auf der Sitzung am 4. Dezember 2015, der Preis war inzwischen auf 40 Dollar abgestürzt, strichen die Regierungen jegliche Obergrenze von der Tagesordnung. Keine Zahl nach einer Opec-Sitzung – das war ein Novum. Die Quoten, die den Mitgliedern eine Grenze vorschreibt, sind eine der tragenden Säulen der Organisation. Sie waren auch das wichtigste Instrument, um die Preise stabil zu halten. Einerseits durften die Vorgaben nicht zu stark steigen, um die Käufer nicht zur Suche nach Alternativen zu verleiten. Andererseits durften sie nicht so stark fallen, dass sie den Profit gefährdeten. Ohne Quoten ist die Opec am Ende, sagen viele. Einige halten diesen Befund aber für verfrüht. "Das ist allein die westliche Wahrnehmung", sagt Karin Kneissl. Die Österreicherin gilt als Kennerin der Organisation. Sie arbeitet als Energieanalystin und Buchautorin und ist mit der Opec vertraut wie kaum jemand sonst – mit ihren Strukturen, Akteuren, Machtspielen. Kneissl warnt davor, den Klub zu dämonisieren. Der sei heute pragmatisch und habe durchaus gute Seiten. Von den Analysen der Opec-Experten profitierten Investoren in aller Welt, und dem Westen biete die Organisation einen Ansprechpartner.
Braucht die Opec neue Regeln?
Aber Risiken sieht auch Kneissl. Das grösste seien die Machtkämpfe innerhalb des saudischen Königshauses. Der stellvertretende Kronprinz Mohammed bin Salman versuche noch zu Lebzeiten seines Vaters, möglichst viel Macht an sich zu reissen. So hat er auch im jüngsten Opec-Poker – bei dem Treffen im März mit Russland – im Hintergrund die Strippen gezogen und damit am Ende mutmasslich die Verhandlungen zum Platzen gebracht, weil er die Quoten nicht einfrieren wollte, aus Sorge, dann Marktanteile zu verlieren. Kneissl rechnet jedoch damit, dass sich die pragmatischen Kräfte durchsetzen. Ohnehin könne niemand eine schwache Opec wollen. Kneissl erinnert an das Jahr 2005, als heftige Preissprünge immer wieder die Weltwirtschaft erschütterten. Sie hält die Organisation für lebendig: "Die Opec wird wahrscheinlich länger leben als so manche europäische Organisation." Branchenkenner sind sich einig, dass die Opec für ihre ökonomische Relevanz und somit ihr Überleben neue Regeln braucht. Sie sei auf einen starken Generalsekretär angewiesen, der nicht die Einflüsterungen einzelner Mitglieder exekutiert, sondern den Willen der Mehrheit umsetzt und gegebenenfalls auch Strafen für jene Mitglieder verhängt, die sich nicht an das Mengendiktat halten. Für einen der grössten Fehler halten es Beobachter, dass die Fördergrenze abgeschafft worden ist. Es müssten dringend wieder bindende Quoten her. Die könnte dann die Opec mit aller Härte überwachen, nach dem Vorbild einer Finanzaufsicht, die die Kapitalrichtlinien der Banken kontrolliert.
"Das Kartell wurde schon oft totgesagt"
"Das Kartell ist brüchig, aber es besitzt nach wie vor Macht", pflichtet Leon Leschus bei. Er ist der Rohstoffstratege beim Hamburgischen Weltwirtschaftsinstitut (HWWI). "Spätestens dann, wenn der Iran das angestrebte tägliche Fördervolumen von rund vier Millionen Barrel erreicht hat, steigt die Wahrscheinlichkeit, dass die Opec wieder mit einer Stimme spricht." Sogar Opec-Skeptiker Yergin gibt zu: "Das Kartell wurde schon oft totgesagt, doch es ist immer wieder zurückgekommen." Die Experten weisen darauf hin, dass gerade die westlichen Industriestaaten auf dieses Comeback sogar hoffen sollten. "Unsere Interessen und die der Opec liegen gar nicht so weit auseinander", sagt Leschus. Das Kartell peile einen einigermassen hohen und vor allem stabilen Ölpreis an. "Damit können auch wir leben." Auch das Geiseldrama im Jahr 1975 konnte die Organisation am Ende nicht zerstören. Doch es beschädigte sie, ebenso wie den Ruf der Stadt Wien. Der Unmut über die lockeren Sicherheitsvorkehrungen der Österreicher war gross. Es lagen ernsthafte Drohungen gegen den saudischen Ölminister Zaki Yamani vor – doch sie wurden wohl ignoriert. "Anfang des Jahres 1975 war in einer Londoner Wohnung, die Carlos als Unterschlupf diente, eine Todesliste gefunden worden", sagt Historiker Riegler. Österreich musste sich damals anstrengen, um eine Abwanderung der Opec nach Paris zu verhindern. Jetzt, im Jahr 2016, ist die Bedrohung der Organisation weniger gewaltsam. Aber womöglich ist sie grösser: Die Zerrissenheit der Mitglieder, die Sturheit der Staatschefs, ihre Egoismen, ihr oft erratischer Politikstil – das kann gefährlicher sein als eine einzelne Gruppe Terroristen.
(Die Welt/Bloomberg)