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Billig und willig (?) - Deutschland sucht nach schlechten Schülern

Der drohende Arbeitskräftemangel lässt deutsche Unternehmen an ungewöhnlicher Stelle nach neuen Rekruten suchen: unter den Klassenletzten.

Der 22-jährige Kevin Reber, dem nach der Schule wegen seiner schlechten Mathe-Noten eine Berufsausbildung verwehrt blieb, ist einer von 250 jungen Menschen, die sich für einen einjährigen Kurs bei dem Chemiekonzern BASF SE angemeldet haben. Dort lernen sie Teamarbeit, Konfliktlösung und erhalten Nachhilfe in den bislang nicht bestandenen Schulfächern. An einem ähnlichen Programm der Deutsche Bahn AG nimmt der 17- jährige Fabian Scholz teil, nachdem ihm seine Fehlzeiten am Schulunterricht die Aufstiegsaussichten verdorben haben.

“Wir versuchen nicht, die Besten zu rekrutieren, sondern die, die am besten zu den Anforderungen der Stellen passen”, sagt BASF-Ausbildungsleiter Richard Hartmann im Interview mit Bloomberg News am Hauptsitz des weltgrößten Chemieherstellers in Ludwigshafen. “Jemand, der klasse Noten bekommen hat und sich als Werksmechaniker ausbilden lässt, wird wahrscheinlich nicht damit zufrieden sein, zu bleiben. Wir brauchen Arbeiter, die qualifiziert manuelle Tätigkeiten über Jahre hinweg verrichten.”

Die deutschen Unternehmen geben Arbeitssuchenden wie Reber und Scholz eine zweite Chance, denn die sinkende Geburtenrate und die alternde Bevölkerung im Lande gefährden die 1 Billion Euro schwere Exportwirtschaft. Deutschland, wo die Arbeitslosenquote bereits auf dem tiefsten Stand seit zwei Jahrzehnten liegt, dürfte bis 2025 unter dem Strich 2 Millionen Menschen im Erwerbsalter verlieren, zeigte ein Bericht des Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB) vom Mai.

Die Geburtenrate in Deutschland hat sich seit ihrem Hoch vor 50 Jahren halbiert. Mit 8,4 Geburten je 1000 Einwohner hat Deutschland nach Monaco die zweitniedrigste Geburtenrate in Europa, schätzt der US-Geheimdienst Central Intelligence Agency. Gleichzeitig hat Deutschland mit einem Median-Alter von 45 Jahren die ältesten Bewohner der Europäischen Union, berichtete das Bundesinstitut für Bevölkerungsforschung im November.

Der deutsche Mittelstand - das Rückgrat der deutschen Volkswirtschaft - bekommt den Engpass stärker zu spüren als die großen und bekannten Unternehmen, deren Reichweite und Firmennamen allein oft schon Mitarbeiter anlocken. Das Problem wird dadurch verschärft, dass immer mehr Schüler zu einem Studium ermutigt werden, was zu Engpässen in handwerklichen Berufen führt.

Vor zehn Jahren sah das alles noch ganz anders aus, sagt Ulrike Stodt, die Teamleiterin für Bildungsprogramme bei der Deutschen Bahn. Als das Verkehrsunternehmen sein Ausbildungsprogramm 2004 einführte, gab es Stodt zufolge mehr Bewerber als Azubi-Stellen. Nun sei das Gegenteil der Fall.

“Jugendliche, die vor fünf oder sechs Jahren keinen Berufsausbildungsplatz bekommen haben, werden jetzt weggeschnappt”, erklärt Stodt im Gespräch mit Bloomberg News. “Man hat heute mit beträchtlich schlechteren Noten als noch vor zehn Jahren eine Chance.”

Ähnliche Programme sind auch bei anderen Großkonzernen aus dem Boden geschossen. Bei der Deutsche Telekom AG gibt es so etwas schon seit 2009, und die Porsche AG hat vor zwei Jahren einen Kurs eingeführt.

“Die Unternehmen müssen das Potenzial der Arbeitskräfte besser ausschöpfen”, sagt Ökonom Andreas Scheuerle von der Dekabank in Frankfurt. “Sie brauchen eine bessere Ausbildung und müssen mehr Personen qualifizieren, die die Bedürfnisse des Unternehmens erfüllen.”

Der demographische Wandel könnte das deutsche Bruttoinlandsprodukt bis 2050 um 0,2 Prozentpunkte pro Jahr schmälern, ergab eine Studie des Schweizer Wirtschaftsforschungsinstituts Prognos AG.

Die Berufsausbildung gehört schon seit Langem zu den Stärken Deutschlands. Die EU-Kommission hat empfohlen, ähnliche Formen dieses Ausbildungswegs in anderen Ländern Europas einzuführen. Spanien, Griechenland, Portugal, Italien, die Slowakei und Lettland erwägen laut einer Studie der Bertelsmann Stiftung von 2013, ihre Trainingsprogramme dem deutschen Modell anzupassen.

Die Berufsausbildung, die ihren Ursprung im Mittelalter hat, wird in Deutschland vor allem von den Unternehmen finanziert und basiert zum Großteil auf berufsnahen, praktischen Erfahrungen direkt am Arbeitsplatz. Der Klassenunterricht findet an ein oder zwei Tagen pro Woche statt.

Für Reber und Scholz liegen die Vorteile auf der Hand. Reber wurde als Azubi bei dem BASF-Partner Planex akzeptiert und fängt dort im September an. Und Scholz lässt die Zeiten der versäumten Unterrichtstage nun hinter sich.

“Für mich hat sich alles komplett verändert”, sagt Scholz. “Jetzt kann ich den Kleinkram überwinden, der mich davon abgehalten hat, zur Schule zu gehen. Ich habe großartige Kollegen. Die Arbeit macht Spaß.”